Dies sind die gesammelten Geschehnisse des Sommers, in dem der Drache sich einen Wolf holen kam...
XVIII - Eik (von Llarrian)
Goldene Funken stieben hoch, als ein neuer Scheit ins Feuer fliegt. Hoch in den Nachthimmel steigen sie auf, gesellen sich zu dem Lachen, dem Singen, dem Stimmengewirr. Vor ihm wogen die glutroten Flammen des Rastfeuers, sein Rücken ruht am warmen Holz der Rundbank. Zu beiden Seiten drängen sich wohlgerundete Leiber an ihn. Ein Arm umfängt seine Schultern, er spürt die warme Weichheit einer Brust im Kreuz. Glühender Hauch flüsternder Lippen dringt in sein Ohr, das goldene Leuchten heissen Mets rinnt ihm durch die Kehle. Wärme umgibt ihn, von außen und innen, jagt durch Sinne und Adern...
Kälte. Die scharfe Schneide eisiger Kälte durchtrennt den Mantel gnädiger Ohnmacht und reisst Eik aus dem Fiebertraum. Mühsam sucht er, die verschwollenen Augen zu öffnen. Nur ein Spaltweit der Welt vor ihm tut sich auf. Düstere Bläue, die nach ein paar Schritten vom Schatten verschluckt wird. Die Höhle. Vater. Eik kommt in der Wirklichkeit an und instinktiv spannen sich seine Muskeln, um loszustürmen, ballen sich seine Fäuste. Er schreit. Geister...Wolf...was... Unbändiger Schmerz schießt durch seine Hand, jagt den Arm hinauf und lässt ihn gleich noch einmal tierhaft aufjaulen. Die Augen weit aufgerissen sucht er nach der Ursache und findet sie in den blutigen Stümpfen zweier Finger seiner rechten Hand. Hechelnd will er der Pein Herr werden, vor ihr davonlaufen, sie niederbeißen. Doch nichts davon gelingt. Zur Hälfte ist sein Leib eingeschlossen in klirrender Kälte, bis zu den Hüften hinauf steckt er fest im verdorbenen Eis der Drachenjünger. Mühsam erinnert Eik sich. Binden wollten sie ihn, mit Seilen festschnüren doch Wolf ließ es nicht zu. Er biss und schnappte sich an die Oberfläche und irgendwann wurden die Svanir es leid, ihn immer wieder zu mehrt niederzuhalten, ihn ein ums andere Mal zu Boden zu prügeln. Sie holten den Eisigen Alten und jener umhüllte Eiks Leib mit dem verdorbenen Frost seiner unheiligen Zauberei. Blaue Schneekristalle wurden zu festem Eis und so gelang es den Svanir, der kraftvollen Wildheit des Wolfes beizukommen. Wieviel Zeit seither vergangen war, weiß er nicht. Über ihm ist nur der schattenverschluckte Himmel aus Höhlenstein. Keine Sonne, kein Mond, kein Schnee, keine Weite.
Wenn er wach ist, ist Johan bei ihm. Raunt, redet, brüllt und schreit auf ihn ein. Der Mann, der sich einst sein Vater nannte, droht und bittet, verspricht und schwört. Während der Svanir sucht, ihn auf seine Seite zu ziehen, lässt Eik seinen Geist auf Wanderschaft gehen. Tief in sich hinein, in die Erinnerung, inmitten all jener Bilder, die er im Herzen trägt. Seine Kinder. Seine Frauen. Seine Freunde. Sein Hof. Bringt ihn scharfer Schmerz eines Schlages oder Schnittes zurück ins Jetzt, so hat er nur eine Antwort übrig für seinen Vater: Eik spuckt ihm vor die Füße und schenkt ihm ein einziges Wort. "Niemals." Sieh ihm nicht in die Augen. Wolf behütet mich vor dem Wahnsinn des Drachen. Ich bin Wolf und alle sind bei mir. Kein Drache kriegt mich, niemals.
Stunden geht das so, Tage. Wochen vielleicht schon, Monate? Eik weiß es nicht. Er hängt in seinem Gefängnis aus blauverschliertem Eis und lässt die Zeit verstreichen. Hunger, Heimweh, Zweifel machen sich breit. Mit jedem Mal, mit dem Johan erneut höhnt. "Dein lächerliches Rudel krümmt keinen Finger, um dich zu retten. Wozu sollten sie Kraft aufwenden, wenn du selbst zu schwach bist, dir zu helfen? Ich sollte dir selbst die Kehle herausschneiden. Für den Drachen taugst du nicht, du miserabler Spielman."Sieh ihm nicht in die Augen. Wolf behütet mich vor dem Wahnsinn des Drachen. Ich bin Wolf und alle sind bei mir. Kein Drache kriegt mich, niemals.
Als er nun wieder Luft kriegt, das Schmerzhecheln langsam in ruhigeren Atem übergeht, zuckt der Schein einer Fackel in die rotgeränderten Goldaugen. Füße scharren und dann steht ein Trupp Svanir vor ihm. In ihrer Mitte eine schlanke Gestalt, über dem Kopf ein Sack. Johan tritt zu ihr und entblößt ihr Gesicht und als Eik das blonde Haar, die dicken Zöpfe sieht, da brüllt und wütet es aus ihm heraus. Er überschüttet Johan mit allem Hass langer Jahrzehnte voll bitterer Erinnerung und frischem Zorn. Seine Haut reisst, wo er gegen das scharfe Svanir-Eis drückt und zerrt und der Norn entflammt in blinder Wut. Das letzte, was zu ihm dringt, sind die Worte des gemeinsamen Vaters. "Sjór. Endlich. Nun wirst du mir deinen Bruder gewinnen. Und danach meinen Ruhm." Ehe die flache Seite einer Axt auf Eiks Schläfe prallt, sieht er noch ein paar moosgrüner Augen. In ihnen lächelt es, voller Ruhe. Alles wird gut. sagen sie und dann versinkt Eiks Welt in Schwärze...
XIX - Wenn Eulen und Bären träumen (von Die Krähe)
Der Wind wirbelte die Schneeeule mit den grauen Zeichnungen im Gefieder hoch auf und ließ sie regelrecht in seinen Händen tanzen, als sie durch die Nacht flog und ihre hellen Augen jede Regung auf dem Grunde wahrnahmen. Er flüsterte durch ihre Federn, wenn sie sich vertrauensvoll in ihn lehnte, und er heulte regelrecht auf, als sie sich in die eisige Schlucht warf und ihren Weg zwischen den Zacken und Felsen mit traumwandlerischer Sicherheit suchte. Der wilde Sturzflug, der Taumel zwischen Kraft und der Willkür des Windes wirkte wie pure Lebensfreude.
Mein Herz schlägt wild in der Kraft des Fluges.
Das Blut rauscht mir in den Ohren und mein Herzschlag ist ein Pochen, das wie eine Trommel meine Schwingen zum Tanze ruft …
Die Nacht breitete ihre Arme um die Eule, welche wieder höher aufstieg und durch eine weiche Schneewehe schnellte, auf dass weiße Kristalle um sie aufstoben und sie in prickelnder Kühle streiften. Im Licht des Mondes glitzerte der Schnee wie ein Regen von Sternen, die in die Tiefe stürzten. Und dort unten, jenseits der schroffen Klippen, knirschte es unter den Tatzen eines gewaltigen Bären. Anmut oder Leichtigkeit waren ihm fremd, vielmehr bahnte er sich donnernd seinen Weg an einem zugefrorenen Fluss entlang und stürmte regelrecht dem Flug der Eule nach, als wiese sie ihm die Pfade durch die Nacht. Immer wieder hob er seinen Kopf und blickte auf. Eis und Schnee glänzten auf seinem Pelz, aber die Kälte erreichte ihn nicht.
Ein ewiges Band, mein Freund, das ist es, was uns bindet, mein Bruder, mein Lehrmeister, Vater meiner Wege. Unsere Träume vereinen sich nach wie vor – selbst, wenn du mir fern bist.
So frei der Flug der Eule war – er endete mit einem einzigen Ruck.
Ein Windstoß aus dem Nichts grollte auf und wie eine Faust traf er in das gebreitete Gefieder, um sie nieder zu stoßen. Wild flatterte sie mit den Flügeln, bis diese erstarrten unter einem Hauch des Sturmes, der kälter war, als er es hätte sein dürfen. Das Grollen wurde lauter, während die Schneeeule herabtrudelte und dann einfach fiel. Es mischte sich mit dem Brüllen des gewaltigen Bären, der sich aufbäumte und von Panik getrieben vorpreschte, als würde er die Fallende auffangen wollen.
Eule .. Bärin! Fangt meinen Sturz, denn niemals spürte ich solche Kälte! Helft mir, Geister .. helft …
Ein kläglicher Aufschrei der Eule zerriss die Nacht, zerfetzte Grollen und tiefes Brummen, als Klippen und Eis sich ins Fleisch gruben und blutige Federn schlichtweg ausrissen, die sich über den weißen Schnee ausbreiteten. Selbst im Licht des Mondes war das Blut dunkel und dampfte, als es sich wie ein Fächer ausbreitete beim Aufprall auf den Boden. Zuckend wanden sich die Klauen, verdreht und gespalten, während der Kopf zur Seite sank, jener kleine Kopf, aus dem der Schädel halb hervor ragte. Ein blass gewordenes Auge starrte in die Dunkelheit. Gebrochen. Doch noch drangen Bilder hinein, langsam und einzeln, während das Eis sich knisternd über ihren Leib schob.
Neben der Schneeeule lagen zwei weitere Körper, größer, allerdings entstellt. Es war der Leichnam einer hellen Wölfin, die sich über einen Norn geworfen hatte. Ihr Bauch war aufgeschlitzt worden und ihre Eingeweide hatten sich über den Toten ergossen.
Es wird dunkel. Rabe, steh mir bei .. Bärin, schenk mir Kraft. Was wollt ihr mir zeigen?
Taumelnd und keuchend kam der Bär über ihr zum Stehen und sein großes Haupt senkte sich herab. In seinen Augen loderte Panik und ein urtümlicher Zorn …
Dies war das letzte Bild, das sich in ihren Geist einbrannte. Und auch das Erkennen des Toten. Wie hätte sie Wölfin und Norn nicht erkennen können?
~*~
Anarwre fuhr in den Fellen auf.
Ihr Atem ging schnell und rasselnd und ihre Haut glänzte unter dem Schweiß, der ihn zeichnete. Wo eben noch Kälte den Traum beherrscht hatte, riss sie nun die Decke von sich, um sich zu erheben und mit bebenden Schritten in Richtung der Treppe zu schreiten, die zur Kammer herabführte. Dann hielt sie inne, als sie hinter sich das Murren des Mannes vernahm, den sie wohl beinahe geweckt hatte. Langsam straffte sie ihre Schultern und kehrte noch einmal zurück, auf dass sie ihm die Unruhe mit einem Kuss auf seine Schläfe und einem weiteren auf seinen Mundwinkel nahm. Dass sie dabei am ganzen Leibe nach wie vor zitterte, bemerkte sie nicht einmal.
Ihre schlanke Hand streifte einmal über die Wange des Norn und dann über den Bart, den sie am Abend erst geflochten hatte. Die Ruhe allerdings sich noch einmal zu ihm zu legen, fand sie nicht.
Nein.
Sie legte sich lediglich das Bärenfell um, ehe sie die Treppen herabstieg und einmal in den Wohnraum spähte, wo ihre Großmutter wie so oft am Feuer eingeschlafen war. Ihre langen Knochennadeln und die Wolle waren ihr in den Schoß gerutscht, während sie herzhaft schnarchte. Normalerweise hätte Anarwre dies allein zum Lächeln und zur Ruhe gebracht, heute aber öffnete sie die Holztür und schritt barfuß in den Schnee vor der großen Hütte. Sachter Schneefall empfing sie und der Blick auf ein paar andre Hütten, die entweder leer standen oder von nahen und fernen Verwandten bewohnt wurden. Heute fielen ihr die Kerben in den Balken und ganz besonders das ausgebrannte Gerippe eines Hauses ungewöhnlich stark auf. Die Allianz der Schaufler und der Legion hatten hier gewütet. Und ihre Großmutter war zu stur gewesen, ihre Heimat aufzugeben. Es war Anarwres Pflicht und Bande gewesen, dass sie hergekommen war, um zu kämpfen. Sie hatten sich verteidigen und einige Gefangene in den Lagern in den Gebirgszügen befreien können, um die es sich zu kümmern galt, für die sie stark sein musste.
Dennoch .. heute Abend war sie zu schwach, um noch auf ihren Beinen stehen bleiben zu können. Mit einem Schluchzen sank sie auf ihre Knie. Sie kauerte sich zusammen und griff mit ihren schwieligen Händen in die langenverfilzten Strähnen, ehe sie die Fingernägel über ihre Augen zog. Kalte Schneeflocken fielen wie zarter Regen auf ihr Haupt. Flocken verfingen sich in ihrem grau-weißen Haar.
„Weißt du, was die Schneeflocken sind? Es sind die Flaumfedern der Eule, ihre Gedanken, die aus den Nebeln noch zu uns dringen…“
Worte ihres Vaters. Worte ihres Lehrers.
Und es waren auch Worte, eine Weisheit, die sie und er geteilt hatten.
Er, den sie Freund genannt hatte.
Er, um dessen Zustand die Geister eine Warnung geschrien hatten.
Er und seine treue Wölfin.
„Was ist dir widerfahren, Eik?“, flüsterten ihre Lippen tonlos.
XX - Sjór (von Llarrian)
Die Wehen hatten eingesetzt, als die ersten Tropfen fielen. Am Ufer des Falschsees entlang schleppten sich die hochschwangere Norn und ihr kleiner Sohn gerade noch in eine Jagdhöhle, ehe das Gewitter einsetzte. Noch am Vorabend waren sie am Feuer von Vanjir's Hof gesessen und Lóa hatte mit der Leier Bildermelodien in den Abend gemalen, während der kleine Eik seine erste Bodhrán quälte. Alle hatten ihr abgeraten, weiterzuziehen. Sie wäre schon so weit, sie müsse sich schonen. Sie wolle doch nicht noch ein Kind verlieren. Aber Lóa musste wandern, denn so war ihr Gemüt. Und so zogen Mutter und Sohn beim Morgengrauen wie immer los, weiter, stets weiter. Irgendwo vor den felsigen Seeufern verlor die Norn dann ihr Wasser und dann hieß es Eilen, Zuflucht suchen. Ein Feuer bereiten, die Zähne zusammenklemmen und abwarten. Während das Gewitter draußen heranrollte und der mächtige Donner gnädig die Geburtsschreie der Frau übertoste, hatte der kleine Junge bei seiner Mutter gewacht. Verängstigt, aber tapfer - wie sie es ihm beibrachte. Lóa warf ihre vierte Welpe kurz und geübt. Das Gewitter draußen war kaum abgeklungen, da barst schon der erste, kräftige Schrei des neuen Lebens durch die Jagdhöhle. Mit dem alten Jagdmesser trennte Lóa die Nabelschnur selbst, wickelte das kreischende Ding in einen Umhang und legte es sich an die Brust. "Komm her, mein Sohn. Begrüße deine Schwester." sagte sie und winkte Eik zu sich. Sein schmales, hübsches Gesicht war verzogen, die Angst vor der Geburt und dem Gewitter wich dem Anflug von Abscheu. "Schwester? Aber Moder! Ich wollte doch einen Bruder. Was soll ich denn mit einem ...Mädchen!" All die Abscheu eines Sechsjährigen klang in jenen Worten. Lóa kniff die Augen zusammen und erwischte Eik am Handgelenk. Grob zog sie ihn an sich, sein Gesicht am Ohr dicht zu dem der Neugeborenen. "Das hier, Eik Johansson, das hier ist dein Fleisch und dein Blut. Du wirst auf sie achten, du wirst für sie sorgen. Du wirst für sie kämpfen und wenn es not tut für sie sterben. Du wirst sie lieben. Denn wenn nicht, dann, bei der Schneeleopardin Krallen, dann werde ich dir das Fell gerben, wie Johan es nicht zu tun vermag. Hast du mich verstanden?" Ein paar Augenblicke war da Stille. Die goldgelben Augen des Jungen suchten eingeschüchtert den Blick der Mutter, wagten dann einen scheuen Blick zum neuen Familienmitglied. Das winzige Mädchen gluckste und sah dem Bruder aus großen, moosgrünen Augen ruhig entgegen. Eiks Herz regte sich und er stupfte dem Säugling mit spitzem Finger die Nase. "Ja, Moder. Ich habe verstanden. Wie soll sie heißen?" Lange Zeit schwieg Lóa. Sie beobachtete ihre Welpen, wie sie sich beschnupperten. Erschöpft ging ihr Blick beim Höhleneingang hinaus. Moosgrün vom Gewitter schimmerte da draußen der Falschsee. "Sjór. Sie soll Sjór heißen." waren ihre letzten Worte, ehe sie erleichtert in den Schlaf der Erschöpfung glitt...
Eik schlägt die Augen auf. Vom Hals abwärts fühlt er sich nicht mehr. Sogar sein klopfendes Herz, wachgeworden von jenem Traum der Vergangenheit wirkt gedämpft. Als würde es anderswo schlagen, nicht in seinem Leib. Er versucht sich zu bewegen. Keinen Hauch weit vermag er es. Das Eis ist seine Brust hinaufgekrochen, zu den Schultern, umschließt schon seinen Hals. Er spürt sich nicht mehr, nur mehr Kälte. Er erinnert sich nicht, wie lange er hier schon ist. Vage dringen Bewegungen und Worte zu ihm. "Gib mir dein Versprechen. Knie vor dem Drachen, oder ich schlage sie." Sjórs Augen sagen Nein!, also tut es auch Eik. "Gib mir deinen Schwur. Knie vor dem Drachen, oder ich schneide sie." Sjórs Augen sagen Niemals! und so tut es auch Eik. "Sohn, ich schwöre dir. Willige ein. Knie vor dem Drachen, oder ich töte sie." Sjórs Augen sind halb geschlossen von den Schlägen und Schmerzen und Schnitten und so zögert Eik. Das kann er nicht sie entscheiden lassen. Alleine er selbst hat nun die Macht, sie zu retten. Er wird es nicht zulassen, ihr Leben war ihm von Beginn an anvertraut. Sein Fleisch, sein Blut. Was war ein Leben in Demut vor dem Drachen gegen das Gefühl, seiner Schwester das Ihre erkauft zu haben? Ein kleiner Preis. Leer und rotgerändert heben die Augen Eiks sich hoch. Suchen jene des Vaters. "Mein Leben für ihres. Ich werde schwören." krächzt er hervor. Eisige Finger quetschen sein Herz und das letzte, was er hört ist ein triumphales, bösartiges Lachen und die hysterischen Schreie seiner kleinen, geliebten Schwester.
"Eik! Nein! NEIN!"
XXI - Der Schatten der Großen Bärin (von Die Krähe)
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Eine Nacht war verstrichen seit dem Traume. Aber diese hatte ebenfalls keine Erholung gebracht, sondern vielmehr einen weiteren Traum, eine Vision, die noch einschneidender nach ihr gepackt hatte als die erste. So hatte sie nicht einmal bis zur Dämmerung gewartet, um in den naheliegenden Berghang aufzusteigen, den Gefährten wie so oft an ihrer Seite, dem sie nicht hatte in Worte fassen können, was sie so sehr beunruhigte. Ein Bärenfell um die Schultern geschlungen und die alte Tasche an ihrer Seite bergend, ja, so stapfte sie durch den Schnee und suchte sich den Weg in jene alte Höhle, in der die Bären sich zurück zogen, um zu überwintern und ihren Schlaf zu suchen.
Nun war es Sommer. Aber das schmälerte die Präsenz des Geistes in keinster Weise, dessen Kraft Anarwres Wirbelsäule sogleich entlang streifte wie ein wohliges Prickeln. Die Gänsehaut folgte auf dem Fuße, als sie im Zentrum des Hortes verweilte und die Tasche öffnete, um beschnitzte Knochen über den kalten Steinboden zu ergießen und sich zu diesen zu knien. Ihre blassen und tätowierten Hände begannen diese zu ordnen, begannen aus winzigen Fragmenten ein Bild zu formen. Nur langsam offenbarte sich dieses den Augen ihres Begleiters und des noch immer jungen Bärens , der vorsichtig näher getabst war, dann aber in aller Stille innehielt.
Es war eine Schlange, die einen Wolf umschlang.
Eine gewaltige Schlange, die Kraft ausstrahlte, während der Wolf in demütiger Haltung in ihrer Umklammerung kauerte.
Wolf schien aufgegeben zu haben.
Eine ganze Weile harrte Anarwre vor diesem Bild aus und atmete bebend ein und aus. Angst und Sorge ließen ihr Herz klopfen und selbst eine Norn wie sie zittern unter der Gewaltigkeit, welche diese Vision bedeuten mochte. Mit der Hand fuhr sie sich über die matten Augen und krümmte sich zusammen wie ein verwundetes Tier, ehe sie ihre Hände auf den Grund stemmte und ein tiefes Grollen in ihrem Bauchraum aufstieg, um sich als bald den Weg durch ihre Kehle und über ihre Lippen zu bahnen. Es war das Brüllen einer Bärin, die sich in Raserei erhob, um ihre Jungen zu schützen. Es erfüllte die Höhle und wurde von den Wänden zurück geworfen, um sich im Zentrum wieder zu vereinen. Das Bärenjunge, das Anarwre begleitet hatte, hob den Kopf und fletschte zustimmend seine Zähne, fiel in das Knurren mit ein, das von dem Zorn sprach, niemals aufzugeben .. niemals einzuknicken.
Ein mit Gravuren verziertes Messer war es, das Anarwre zog und mit leisem Grollen an ihre Lippen führte, um einen Kuss darauf zu setzen.
Die Vision mochte aussichtlos gewesen sein .. doch in ihrem Geiste entstand um das aus Knochen gemalte Bilder ein weiteres. Weitere Wölfe, die sich näherten und ihre Zähne fletschten, um die soviel größere Schlange anzugreifen und sie zu zerreißen. Hoffnung. Hoffnung war es, die ihr Herz bebend weiter schlagen ließ, als sie sich hochstemmte und mit tiefer Stimme zu singen begann, auf dass ihre Stimme nach und nach die gesamte Höhle erfüllte und sich mit der ewigen Präsenz der Bärin vermischte.
Donnernd der Ruf von eisigen Klippen
Führt unser Marsch uns auf weißen Berg
Klinge und Hammer, Äxte und Schilde
Drunter nur pocht eines Nornkriegers Herz
Rabe und Leopardin sind uns stets zur Seit
Bärin und Wolf ziehen mit uns die Nacht
So gehen wir weiter, kein Sturm uns hier hält,
Auf zu blutiger ruhmreicher Schlacht
Bärin, gewähr mir deine Stärke dies Mal
Sei mein Schatten, sei in jedem Hieb
Mein Blut sei wilden Zornes Preis
Bis mein Feind dort in Schande liegt
Wie Wölfe wolln vereint wir jagen
Unter kalter Sonne und Mond
Klaue an Klaue, Leib nur an Leib
Wird kein einziger Feind je verschont
Rabe, sei mir uns, mit wachem Verstand
Auf dass im Zorne sich keiner verliert
Dein Schrei sei hier unser Schlachtruf,
Der sich über blutige Felder verirrt
Die Schatten der Wildnis gewähr uns,
Leopardin, Jägerin auf Felsen und Schnee
Deine Kralle sei uns die Klinge
Mag Leben um Leben auf ihr vergehn …
Donnernd der Ruf von eisigen Klippen
Führt unser Marsch uns auf weißen Berg
Klinge und Hammer, Äxte und Schilde
Drunter nur pocht eines Nornkriegers Herz
Rabe und Leopardin sind uns stets zur Seit
Bärin und Wolf ziehen mit uns die Nacht
So gehen wir weiter, kein Sturm uns hier hält,
Auf zu blutiger ruhmreicher Schlacht
Bei jeder einzelnen Strophe hielt sie kurz inne, um das Messer über eine der Tätowierungen am Bauch und den Schenkeln wandern zu lassen. Schnitte hinterließ sie, aus denen dunkles Blut dem Steinboden entgegen rann. Bald schon war ihre helle Haut bedeckt von Rinnsalen des eignen Lebenselixieres und sie bettete das Messer an ihre Unterarme, mittlerweile zitternd, auf dass sie die letzten Wunden zufügen konnte, ehe die Klinge zu Boden ins Herz des Traumbildes fiel. Während sie die Hände zu Fäusten ballte, lehnte sie ihren Kopf etwas in den Nacken, so dass die grauen verfilzten Haarsträhnen bis unter ihren Steiß herab flossen.
„Bärin, Hüterin und Kraft …“, begann sie zu sprechen und erst zitterte die Stimme, ehe sie Festigkeit und Urgewalt gewann,
„Wo Wolfes Ruf an Kraft verliert
Wo Schlange kämpft und Berg zerbierst
Wo Traum nur Schrecken mir gebiert
Bärenpranke Hoffnung birgt …“
Die Schamanin wiegte sich unter dem Sprechen der eignen Worte, die immer tiefer erklangen, bis sie kaum noch als die Stimme Anarwres zu erkennen waren. Der Schatten der Norn verlängerte sich und zeichnete die Konturen einer sich erhebenden Bärin, kampfbereit und stolz aufgerichtet, nicht bereit sich zu beugen.
„Bärin!
Wo Wolfes Ruf an Kraft verloren hat, steh du an ihrer .. an unsrer Seite.
Gib Stärke, wo Verzweiflung und Eis sich ins Fleisch gefressen haben.
Gib Zorn, wo er die Entschlossenheit bringt ..“, raunte sie, grollte sie und spuckte die Worte der Schlange entgegen, ehe sie ihre Hände wie Klauen erhob und das Knochenbild mit der Urgewalt eines Prankenhiebes zerschmetterte und auseinander sprengen ließ.
Eine blutige Spur hinterließ sie auf dem Grund.
Und ihre Kraft schwand, während jener Schatten der Bärin erwuchs, sich gen Norden wandte und die Höhle hinter sich zurückließ…