ACHTUNG!
Prostitution, Gewalt, Elend und Wahnsinn
Behutsam glitten ihre Fingerspitzen über die Falten des einfachen Stofflakens. Mit geschlossenen Augen erfühlte sie sorgfältig die Struktur des groben Leinenstoffes, der Falten, der Nähte. Irgendwo im Rückwärtigen Teil ihres Kopfes fragte sie sich, wie ihre Fingerspitzen nach all den Jahren auf der Straße noch so feinfühlig sein konnten.
Das leise Ausatmen das folgte war schon beinahe ein Seufzen, als sie die Augen wieder öffnete, und durch das geöffnete Fenster hinausblickte. Sternenhimmel.
Sie hatte sich direkt am ersten Abend mit Martha angelegt, weil sie darauf bestand ein Zimmer mit Fenster zu bekommen. Es war ein Krampf gewesen, aber am Ende hatte die alte nachgegeben, und ihr das Zimmer direkt über den Kanalabflüssen gegeben.
Der Geruch störte sie herzlich wenig, aber das wusste die Alte ja nicht. Es stank erbärmlich, dafür war das Fenster relativ groß, durch einen Baum in der Nähe gut zu erreichen, und vom Bett aus war der Abstand des nächsten Hauses weit genug, dass sie einen vollen Blick auf den Sternenhimmel hatte. Zumindest, nachdem sie das Bett unter Aufwand all ihrer Kraft ein wenig verschoben hatte.
Das einfache Regal beherbergte nun ihre Tasche, und auf dem Stuhl in der Ecke lagen das Nachthemd, das Mieder und der Wollmantel, darunter stand das paar Stiefel.
Schnee selbst stand völlig nackt vor ihrem Bett - ein eigenes Bett! - streichelte den Stoff und sah hinaus.
Sie war am Abend noch einmal draussen gewesen, hatte Dinge zu erledigen. Auch für solche Unternehmungen kam ihr dieser Baum sehr entgegen.
Nach ihrer Rückkehr hatte sie eine Schale voll Eintopf vom Herd gegessen, der, für ihre Verhältnisse, erstaunlich gut schmeckte. Die Schale hatte sie dann sorgfältig ausgeleckt und gespült, und zurück in den Schrank gestellt, ehe sie auf lautlosen Sohlen die Treppe hinaufgeschlichen war.
Kurz hielt sie inne, vor Sarius Tür; Der Leibwächter hatte ihr gesagt sie könne vorbeikommen und klopfen wenn etwas war - doch Schnee schüttelte nur den Kopf, und schlich weiter, bis ans Ende des Ganges. Die letzte Tür, war ihre. Ihr Reich. Ein eigenes Zimmer. Nur für sie.
Auch das hatte nur Vorteile; Wenig Durchgangsverkehr vor der Türe, sodass sie relativ ungestört und für sich war.
Die Türe hatte sie sorgfältig hinter sich verschlossen, und sich erstmal umgesehen. Sie hatte jeden Winkel des Zimmers inspiziert; Angefangen vom Einfachen Bett, über das einfache Höckerchen das als Nachttischchen fungierte, bis zum Regal und dem Stuhl.
Auf dieser Entdeckungsreise hatte sie einen Tabakstengel und zwei Messingknöpfe gefunden - alles drei war Prompt in ihrer Tasche verschwunden.
Nach Ablegen ihres Wollmantels hatte sie sich der Waschschüssel zugewandt und sich, nach Ablegen der Restlichen Kleidung erstmal gewaschen. Das Wasser war eiskalt und das Stückchen Kernseife daneben knochenhart - aber nun war sie sauber und fühlte sich erfrischt, was längst notwendig gewesen war.
Noch tropfte das Wasser von den nassen, weißen Locken auf den noch leicht feuchten, dürren Leib der im Mondlicht beinahe leuchtete, so blass war sie. Mondlicht, das zugleich scharf kontrastierte, wie dürr sie eigentlich war, und hinter jeden hervorstehenden Knochen einen harten Schatten zeichnete.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, griff mit den knochigen Fingern nach ihren Oberarmen.
Sie hatte sich im Spielel gesehen. Sie war erschrocken gewesen.
Das Ding, was sie angesehen hatte wie ein Geist sah scheußlich aus. Dürr, blass und hässlich. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung was genau die Gräfin in ihr gesehen hatte.
Was der "ungeschliffene Diamant" sein sollte.
Vermutlich hatte Herr Richter recht.
Ihr Blick traf ihre Tasche, und die halb gefüllte Phiole die daraus hervorlugte.
"Nimm das zu dir bevor sich der Graf zu dir legt."
War es das, wofür man sie hergebracht hatte? Damit der Graf jemanden hatte dem er beiliegen konnte?
...oder gar die Gräfin?`
Herr Aiden hatte Recht, die Hinweise darauf waren recht eindeutig. Eine Gänsehaut wanderte über ihren Körper.
Es war ja nicht so dass sie damit nicht vertraut war, aber das hier war... es war... anders.
Mit einem Seufzen wandte sie sich um, und ließ sich auf das Bett nieder, das, für ihr empfinden, ungemein bequem war. Vermutlich hätte sich jede blaublütige Dame eloquent beschwert und nach weicheren Laken verlangt.
Für Schnee war das Ding wie ein Himmelbett aus Zuckerwatte. Bloß, dass es vermutlich nicht so gut schmeckte, wenngleich es sicherlich leichter essbar wäre.
Mit dem Mondlicht im Rücken betrachtete sie ihre Füße.
Sie hatte nun eine regelmäßige Mahlzeit, jemanden der für ihren Schutz sorgte, ein eigenes Zimmer mit Bett, Sternenhimmel und einer Möglichkeit zum Waschen.
Das war den Preis wert.
Oder nicht?
Ein Tröpfchensturm folgte, als die junge Frau vehement den Kopf schüttelte.
Es war nur die erste Stufe die sie gehen musste um das Ziel zu erreichen.
Und das Ziel war jeden Preis wert.
Sie neigte sich hinunter, und knibbelte zwei Holzspäne aus den Bodendielen, mit denen sie sich dann ihren Unterschenkeln zuwandte. Drehend und klemmend, begann sie dann damit, Haar für Haar, jedes der feinen Härchen auszureißen. Bis sie am Kinn angekommen war, würde Morgen sein.
Aber sie würde dafür sorgen dass der Graf, wenn er kam, oder sie kommen ließ um ihr beizuliegen, ein angemessenes Angebot vorfand.
Wie es sich für einen Grafen gehörte.
Denn das war der Preis.
Und sie war bereit ihn zu zahlen, wenn es nötig wurde.