ACHTUNG!
Prostitution, Gewalt, Elend und Wahnsinn
Es ist dunkel.
Warum ist es am Anfang solcher Geschichten immer dunkel, fragt sie sich.
Wenn man sie Augen aufschlägt, und es ist dunkel, dann stimmt irgendetwas nicht.
Oder es ist Nacht.
Sie fühlt, dass sie barfuß ist. Teppich unter ihren nackten Füßen. Sie wackelt mit den Zehen; Die Muskeln funktionieren, die Nerven auch. Sie spürt die flauschigen Webereien, und ein Blick nach unten macht ihr bewusst dass der Teppich rot ist. Rot, mit goldenen Borten.
Ein teurer Teppich. Ein edler, und doch schlichter Teppich.
Sie fragt sich, warum sie über den Teppich nachdenkt. Ist der Teppich nicht unwichtig?
Der Blick nach unten hat ihr ebenfalls offenbart dass sie ein Nachthemd trägt.
Ein Nachthemd aus feinstem Seidenstoff mit einigen Stickereien aus Goldfaden.
…ist das Nachthemd nicht genauso unwichtig wie der Teppich?
Was ist Reichtum schon? Was ist Besitz?
Sie fährt herum. Bemerkt, dass sie in der Mitte eines langen Ganges steht.
Links von sich eine Reihe Fenster in Regelmäßigen Abständen. Davor blutrote, leichte Gardinen. Dahinter tiefscharze Nacht.
Rechts von sich Türen aus dunklem Holz.
Der Gang endet in beide Richtungen in schwärze.
Er muss lang sein, denkt sie sich.
Sie spürt ihren Puls.
Er pocht in ihrem Hals, ihre Brust bebt unter kräftigen, schnellen Schlägen.
Warum hat sie plötzlich Angst?
Schreckliche Angst, die wie aus dem Teppich aufsteigend über Ferse und Wade ihren Rücken hinaufkriecht bis sich die feinen Härchen in ihrem Nacken kribbelnd aufstellen.
Ihr Kopf ruckt herum, sie späht in das finstere Ende des Ganges – war dort ein Geräusch? Ein Schatten der sich bewegt hat?
Ihr Kopf ruckt in die andere Richtung. Und wieder zurück.
Weiße Locken fliegen durch die Luft, kleben an der Schweißnassen Haut.
Dann rennt sie. Weg von dem Geräusch. Immer weiter.
Der Gang scheint endlos, dumpf pochen die schnellen Schritte der kleinen Füße auf dem Teppich. Ihr lächerliches Gewicht verursacht kaum ein Geräusch, der Teppich dämpft zusätzlich. Weiter, immer weiter.
Die Fenster nun rechts von sich, die Türen links.
Dann – ein Knall. Noch einer. Und noch einer.
Sie Blickt über die Schulter, hält nicht an.
Eine nach der anderen fliegen die Türen hinter ihr auf, immer weiter.
Was es auch ist, kommt immer näher.
Es klirrt, als die Fensterscheiben bersten.
Scherben regnen auf sie, und sie hebt die Arme schützend.
Das Nachthemd schützt nicht, Scherben schneiden den Stoff, schneiden ihre Haut.
Sammeln sich im Teppich und schneiden ihre Füße als sie weiterrennt. Immer weiter.
Der Wind bläst durch die zerbrochenen Scheiben, ein wahrer Sturm bläst die Vorhänge auf. Rote Schwaden die ihr in den Weg wehen, sie bremsen und zu hindern suchen.
Sie schlägt sie fort, die Hände blutig.
Blutige Fußspuren verschwinden auf rotem Teppich.
Weiter… immer weiter läuft sie.
Das Türenknallen kommt immer näher. Verfolgt sie.
Jagt sie.
Sie dreht den Kopf wieder nach vorn – und prallt frontal gegen eine Wand. Sie taumelt einen Schritt zurück, wunder t sich wo die Wand herkommt. Keine Tür.
Und das Knallen kommt immer näher.
Sie fährt herum, drückt den schweißnassen Rücken an die Wand.
Beobachtet die Türen die auffliegen.
Noch sechs.
Fünf.
Vier.
Drei.
Zwei.
Eine.
Sie fällt.
Die Wand ist verschwunden, und sie stürzt rückwärts – auf den Hintern. Der Gang ist dunkel, verschwindet in der Nacht.
Plötzlich ist es gleißend hell.
Sie kneift die Augen zusammen, hebt einen blutigen Arm um sich vor dem Licht zu schützen.
Sie sieht Gestalten.
Menschen.
Sie versucht die bunten Lichtpünktchen fortzublinzeln die ihr die Sicht rauben wollen. Läßt den Arm sinken.
Sie sieht Gesichter.
Sie kennt die Menschen.
Die Gräfin erkennt sie zuerst.
Ihr Gesicht ist ein Bildnis Verächtlicher Kälte.
Der Graf… ein überhebliches Kopfschütteln.
Lena… Lena sieht sie an wie eine schmutzige Verräterin.
Faeryllian und seine Schwester. Ein Kopfschütteln, synchron, resignierend, verurteilend.
Kinad… Wut. Enttäuschung. Verletzung.
Sie wenden sich ab. Einer nach dem anderen. Graf und Gräfin, Lena, Kinad. Raphaele, Bro, Lianara, erst jetzt erkennt sie sie alle, erst jetzt – als sie sich von ihr abwenden.
Eine Träne rinnt über ihre Wange.
Und dann fällt sie. Ein spitzer Schrei entfährt ihr, als der Boden nachgibt, und sie in dunkle, schwarze Tiefe stürzt.
In die Leere.
Schweißnass schreckt sie hoch, in eine sitzende Position.
Ihr Herz rast, und jetzt, den verletzen Arm eingeklemmt, schießt brennender, stechender Schmerz inren Arm hinauf, direkt in ihr Hirn.
Schnaufend krümmt sie sich ein, nun schießt der Schmerz auch durch das Bein und die verkrustete Wunde an ihrer Front.
Das Nachthemd klebt schweißnass an ihrer Haut. Und sie friert.
Sie schmeckt Salz. Ihr Gesicht ist feucht.
Ein Blick nach oben zeigt, dass das Fenster offensteht, und sich die Vorhänge im Wind blähen. Die Fenster Klappern unter dem stetigen Windzug rhythmisch immer wieder gegen die Wand. Eiskalte Winterluft dringt mit forschen Böen in ihr Zimmer.
Sie lauscht in die Nacht, hört aber ausser dem Wind in den Vorhängen, dem Fensterklappern und ihrem eigenen schmerzhaften Wimmern nichts. Hat sie laut geschrien? Sie weiß es nicht.
Mit Mühe schlägt sie die Bettdecke zur Seite, und schwingt die dünnen Beinchen über die Bettkante. Es schmerzt, aber die kalte Luft ist tödlich.
Mühsam setzt sie die Fußsohlen auf den warmen Teppich und stemmt sich in die Höhe.
Der Schmerz schießt mit einem heißen weißen Blitz in ihre Augen, macht sie blind.
Sie greift mit dem gesunden Arm nach dem Bettpfosten, muss sich halten um nicht umzufallen, und sich zwingen bei Bewusstsein zu bleiben.
Der Weg ist eine einzige Qual, doch sie schleppt sich vorwärts, Schritt für Schritt.
Sie weiß nicht wie lange sie braucht, aber als sie am Fenster ankommt ziehen sich die ersten Streifen der Morgenröte durch den Himmel.
Einem tiefem Atemzug kalter, frischer Morgenluft am Fenster folgt ein langer Blick in die noch schlaftrunkene Stadt. Den erwachenden Markt, die ersten Ehefrauen und Mägde auf den Straßen.
Sie senkt den Kopf, ihre Fingerspitzen streichen über das Holz des Fensterbrettes.
Ihre Füße tragen sie nicht mehr, darum tritt sie zurück und schließt das Fenster wieder.
Das Fenster ihres ganz eigenen, goldenen Käfigs.
Aber Gitter aus Gold bleiben immernoch Gitter.