Zwei Gestalten irren durch die Dunkelheit. Die alten, zerschlissenen Mäntel wehen wild hinter ihnen her. Sie tragen Kapuzen, und eine von ihnen hat einen großen Korb bei sich. Wenn es nicht so regnen würde, könnte man vielleicht ihre Tränen auf den Wangen erkennen, aber unter der allgegenwärtigen Nässe sind sie wohl nicht von Regentropfen zu unterscheiden.
Die beiden Personen reden angespannt und so leise es unter dem Sturm geht, ohne an Hörbarkeit zu verlieren, miteinander. Eine junge Männerstimme, unterdrückt, aber laut genug, um die Nacht zu durchdringen.
"Das ist doch bekloppt!"
Annah wachte auf.
Diesmal war sie nicht auf der Straße. Sie war in einem Bett. Im Annahbett. Nach Diarmais Jahrmarktabend war sie auf Felicias Anweisung hin zu ihrem Anwesen getappst, und durfte dort schlafen. Enttäuschend. Der Traumfänger war wohl nicht gründlich genug, um ihren Traum zu fangen. Sie drückte Mud ein wenig an ihren Körper, räkelte sich und sah aus dem Fenster hinaus.
Aus dem Fenster. Das war immernoch seltsam.
Wenn die nach draußen sehen wollen, warum bauen die da Glas hin, anstatt einfach ein Loch zu lassen. Die sind doch bekloppt.
Jedenfalls war es diesmal hell. Gerade so. Morgendämmerung. Draußen gingen schon ein paar Bürger ihren Tagewerken nach. Es war also an der Zeit, dass Annah das auch tat. Sie hoppste aus dem Bett, bereitete ihre Ausrüstung vor und sah kurz in Felis Zimmer, wo diese noch schlief, wenn auch recht unruhig.
Es gab ein "Mach's gut." für die schlafende Frau, und das Haus wurde verlassen. Dia hatte ihr gestern Schokofrüchte und Nüsse mitgegeben, also musste sie heute nicht nach Frühstück suchen.
Im Haus bleiben wollte sie auch nicht. Zuviel Bindung. Sie mochte keine Bindungen. Irgendwann verschwand jeder.
Zunächst bekam Mud ein paar Nüsse ab. Die blieben wie erwartet auf der Straße liegen. Aber es waren nur Nüsse. Annah war kein Fan von Nüssen. Die Schokofrüchte hingegen...
Während ihre Hand nacheinander das mit Schokolade überzogene Obst in ihren nimmersatten Mund beförderte, schlenderte sie recht ziellos durch die Straßen.
Als sie an ihrem höchstgeheimen Geheimversteck vorbeikam, versicherte sie sich dabei kurz, ob noch all ihr liebevoll gehortetes Zeug da war – was es war – und ging dann weiter, sich ihre Gedanken machend.
Dia will Käfer heiraten. Und ich soll hin. Das ist bekloppt. Und Feli will, dass ich ihr etwas schenke. Etwas schönes, nützliches was sie freut. Bekloppt. Woher soll ich wissen, was Dia freut?
Ich würde mich über einen Dolyak freuen! Dann hätte ich mein geheimes Geheimversteck immer dabei. Hmm... dann wär' es nicht mehr geheim. ... ... Essen Bären eigentlich Dolyaks?
Und wie schmecken Dolyaks wohl?
Fokus!
Feli sagt, wenn etwas nicht viel kostet kauft sie es mir, damit ich es schenken kann. Das ist zwar bekloppt, aber lieb. Wieviel wohl ein Dolyak kostet? Oder eine Bärenmütze. Wobei, dann gäbe es ja noch mehr Bärchen. Nahh. Doofer Norn.
Sie brumpfte laut, und merkte, dass sie im Marktviertel gelandet war.
Hier will ich gar nich' hin! ... Wohin will ich? Hmm. Verdammt. Die Schokofrüchte sind alle. Vielleicht sind in der Lampe noch welche. Im Müll oder so. Auf zur Lampe!
Die vormals ziellosen Füße führten sie nun recht schnellen, man könnte vielleicht sogar gierigen sagen, Schrittes in Richtung Ossaviertel, während ihr gedanklicher Fokus langsam auf ihre Sorgen zurückfiel.
Geschenk! Nützlich. Für beide. Oder den Haushalt. Woher soll ich wissen, was man im Haushalt braucht? Ich hab' doch kein Haus. Feli ist bekloppt. Vielleicht frag' ich irgendwen. Nicht Feli. Die ist bekloppt. Tengu ist vernünftig. Ich frag' Tengu mal, wenn ich sie sehe.
Hochzeit. Ewwh.
Damit war diese Sorge schonmal auf morgen verschoben. Blieb die Sorge, wie sie sich als Bär im Wald verhalten sollte. Am besten fragte sie da wohl auch wen. Einen Bären, sinnvollerweise.
Ich geh' nachher in den Wald und gucke mir an, was die Bären da so machen. Hah. Und Feli sagt, ich wär' bekloppt! Ich find schon Sachen raus, wenn ich will.
In Ossa angekommen, untersuchte sie völlig unverdächtig die Mülltonnen in den Gassen hinter der Lampe, als ein Seraph auf sie zutrat.
"Ich hab' nix geklaut!"
"Uhm. Du wühlst im Müll, Mädchen. Ich ging nicht davon aus, dass du etwas geklaut hättest."
"Na, sag' ich doch! Hör' doch zu.", brumpfte Annah.
"Jetzt werd nicht frech, Kleine. Oder soll ich dich mal durchsuchen?"
"Ehh. Nahh. Nicht durchsuchen. Aber ich hab' eh nix geklaut. Und ich bin nicht frech. Nur ehrlich!"
Die Wache grinste schief. "Und woher genau haben wir unseren Ballon und unsere Katze, kleines Fräulein? Die sehen nicht aus, als hätten sie im Müll gelegen. Die Mütze schon eher."
"Ey! Die Katze ist mir von Heather zugelaufen und den Ballon... ehhh... der Ballon... jahh."
"Jahh?"
"Den hab' ich am Pavidings gefunden."
"Aber nicht zufällig an eine der Feierlichkeitsdekorationen angebunden, was?"
"Ehhh... Nahh. Der flog... einfach so da rum. Jahh. Flog rum."
"Du lügst schrecklich, Kleine."
"Ich weiß, ich sag' ja auch die Wahrheit!"
"Klar.", meinte die Wache lachend. "Hör mal, du darfst nicht einfach im Müll wühlen. Das stört die öffentliche Ordnung und all das. Aber wenn du jetzt machst, dass du fortkommst, mache ich dir keinen Ärger mit dem abgeschnittenen Ballon, einverstanden?"
Woher weiß er nun, dass ich ihn abgeschnitten hab'?!
Annah brumpfte. Dann zuckte sie mit den Achseln und nickte. "Na gut."
"Brav. Hey, wie es der Zufall will, habe ich hier noch einen Apfel. Aber ich bin allergisch auf Äpfel. Magst du ihn haben?"
"Oh. Uhh. Jahh, klar! Danke. Mach's gut, Seraph!"
Den Apfel rüberwerfend lachte der Wachmann wieder auf: "Mach du's gut, Mädchen."
Annah nickte wieder, bückte sich dann um den Apfel vom Boden aufzuheben – sie war keine gute Fängerin – und schlenderte, Ballon und Apfel in der Hand, Mud unter der Achsel, davon.