Das Bärenjunge steht in einem schwach beleuchteten Raum. Vor ihm stehen Menschen, die es kennt. Helfer und die Matrone. Der Besitzer des Waisenhauses. Sie schauen streng.
Das Junge hat Angst.
„Du bist jetzt alt genug, um auf dich selbst Acht zu geben. Wir können dich hier nicht mehr durchfüttern.“
Das Junge ist Zwölf. Es weiß, dass viel ältere Kinder durchaus noch im Waisenhaus leben.
„Du bist kein Kind mehr. Du bist Erwachsen. Und Erwachsene tragen Verantwortung, versorgen sich selbst und wissen, was sie tun. Du benimmst dich nicht angemessen für die Güte, die wir dir zuteil werden lassen.“
Das Junge schaut an sich hinab. Es findet nicht, dass es erwachsen aussieht. Aber wenn die Leute das sagen, werden sie wohl Recht haben. Es ist kein Junges mehr. Es ist ein Bär. Und Bären sind bedrohlich.
„Wir geben dir etwas Geld. Das Armenhaus wird dir auch weiterhelfen, wenn du Hilfe brauchst.“
Bären brauchen keine Hilfe. Bären brauchen kein Geld.
„Aber du kannst nicht mehr hier leben. Du hast Leute verletzt und die Helfer wissen nicht mehr, wie sie mit dir umgehen sollen. Du bist komisch.“
Bären sind nicht komisch. Bären sind bedrohlich. Die sind bekloppt.
„Du bist auch alt genug um leichte Dinge zu arbeiten. Du wirst schon klarkommen.“
Bären arbeiten nicht. Bären jagen und sammeln.
„Geh jetzt. Viel Glück, Anna. Du wirst es brauchen.“
Die Bärin verlässt ihre erste Höhle, ohne Angst, ohne Sorge, und sucht sich ihre zweite.
Annah wachte auf.
Sie wachte nicht in ihrem Versteck, ihrer zweiten Höhle, auf, sondern im Annahbett. In Felicias Haus. Zu dem sie jetzt einen Schlüssel besaß.
In ihrer dritten Höhle, also.
Ein Zimmer weiter schliefen Feli und Heather vermutlich noch.
Der Traumfänger schien wirklich zu funktionieren. Kein Alptraum. Oder das Annahbett war einfach besser als fremde Betten. War es sowieso. Annah lächelte und stand leise auf.
Die Rückreise von der falschen Stadt war ruhig verlaufen. Eine Wegblockade von Banditen, die sie gemeinsam besiegt hatten. Heather und sie hatten dabei einen gemeinen Kerl verprügelt, der Annahs Holzschwert ins Gestrüpp geworfen hatte und sie wegzerren wollte. Zugegeben, Heather hatte wohl die Hauptarbeit geleistet, aber niemand sollte sagen, die Bärin könne sich nicht verteidigen. Sie hatte natürlich ihr Schwert wieder eingesammelt. Und dabei einen Dolch erbeutet. Die deutlichen Verlierer bei dem Überfall waren wohl die Banditen, aber Alanna war dabei wieder verletzt worden und Yena hatte eins auf die Nase gekriegt.
Für sie wohl was ungewohnter als für mich. Ging nicht sehr klug damit um!
Annah hatte häufiger eine blutige Nase bekommen. Sie hatte sich auch häufiger geprügelt. Felis Lob gestern, dass sie sich in den Gefahrensituationen, denen sie begegnet waren gut gehalten hätte, rührte wohl hauptsächlich daher. Wer in Prügeleien keinen Überblick behielt, verlor.
Was wohl mehr für Stress gesorgt hatte, war der Zank zwischen Vahlyena und Robin. Naja, und die falsche Anna. Aber das war zweitrangig. Annah verstand nicht wirklich, warum die beiden so gemein miteinander umgingen, wo sie sich doch mögen sollten. Das war einfach völlig bekloppt. Aber sie hatte auch einen Tag im Bett verbracht, und nicht mitbekommen, was passiert war. Außerdem hatte sie es verpasst, die falsche Stadt zu erkunden, wie Rob ihr zum Umstimmen ihrer Meinung empfohlen hatte. Aber darüber war sie wirklich nicht böse. Die Stadt war falsch. Die Elementare waren falsch. Der Turm war falsch. Und der Magier war falsch. Um das zu erkennen musste sie sich wirklich nicht umgucken.
Sie zog, während sie dem letzten Tag ihrer Reise nachhing, ihren Mantel an, dann ihre Waffen. Sie suchte eine ihrer bodenlosen Taschen heraus, in die der Schlüssel verschwand, und schlich so leise sie konnte aus dem Haus.
Frühstück und Versteck! Guter Plan. Erst Frühstück! Wo krieg' ich das heute her? Hmm, zu spät für's große Haus. An Felis Asuraschrank soll ich nicht ran. Humhom.
Annah dachte eine Weile nach, während ihre Füße sie schon durch die Straßen trugen. Eine Alternative waren natürlich immer ihre Vorräte. Aber die brauchte sie eigentlich nur ungern auf. Wer auf der Straße lebt, weiß alles zu schätzen, was ihn ernähren kann, wenn er nichts anderes findet.
Ach, wenn ich was aus'm Versteck esse muss ich weniger tragen. Ist besser, heute! Hah.
Entsprechend begab sie sich dann zu ihrem geheimen Geheimversteck in Rurikton. Außer ihr hatte die zweite Höhle nur Feli gesehen. Aber die hatte ihr ja auch einen Schlüssel gegeben. Das war nur fair. Man musste zwischen ein paar Treppen und Stützen durchkriechen – und relativ klein sein, dafür – um in eine Ecke zwischen zwei Häusern zu kommen. Dort war ein Loch in einer Wand nach außen, und darin waren ihre Sachen versteckt.
Viel hatte sie natürlich nicht, aber einige Dinge sammelten sich auch an, wenn man auf der Straße lebte, und nicht mit Geld umgehen konnte. Genau wie in ihren Taschen musste sie eine Weile im Loch herumwühlen, um ihren Besitz zu finden und herauszuziehen.
Erst einmal wurde Inventur gemacht:
Als erstes kam eine recht große Tragetasche mit einem kleinen Loch im Boden zum Vorschein. Das war praktisch. Sie musste immerhin einiges tragen! Das Glück war mit den Bären.
Danach fischte sie eine ausgefranste und dreckige Wolldecke heraus. Darin eingewickelt waren ein paar alte, ebenso löchrige und ausgefranste, aber deutlich sauberere Kleidungsstücke, die ihr wohl meistens zu groß waren. Das meiste hier war definitiv auf dem Müll gefunden worden.
Es folgten eine Porzellanpuppe mit eingebrochenem Gesicht, drei Ballons vom Pavillion, aus denen das Helium schon lange entschwunden war, eine Pfanne mit ausgebeultem Boden – auch wenn sie nicht wusste, wie man kocht – und ein Beutel mit exakt zwölf klimpernden Kupfermünzen Inhalt.
Nun ging es ans Eingemachte! Wortwörtlich. Ihre Vorräte kamen dran. Ein paar Gläser Eingemachtes – teils süß, teils herzhaft, und vermutlich aus der Rurikhalle geklaut. Ein paar Beutel mit Dörrfleisch, Trockenfleisch, Pökelwurst und altem Brot und Zwieback. Und ihre Schätze: Süßigkeiten. Beutel mit Essgummis und Beutel mit Schokoladenstücken und eine ganze Flasche mit Apfelsaft.
Einen alten, hölzernen Löffel hatte sie auch noch, einen Holzbecher und eine verbogene Schere und einen Topf.
Das war es. Annahs gesamter Besitz – mit Ausnahme von Mud, der noch bei Feli im Annahbett lag – war in ihrer kaputten Tragetasche. Es wurden schnell ein paar Stück Dörrfleisch gegessen, eine Zwiebackscheibe und mit einem einzelnen Stück Schokolade geschlossen, und auf ging es.
Die Tasche war nicht gerade leicht für ein kleines, wirklich nicht kräftiges Mädchen, aber sie trug sie tapfer das ganze Viertel entlang durch Rurikton bis nach Salma hinein, benutzte das allererste mal alleine ihren Schlüssel an Felicias Haustür, und schlich sich wieder hinauf. Ausräumen kam später, wenn Heather und Feli auf waren.
Das würde ein guter Tag werden. Eine gute Zeit, sogar.