Tage im Leben eines Bären - Part 16

Annah sieht sich um. Um sie herum sind nur Linien. Sie ist einen Moment verwirrt und will hinauf sehen.


Bekloppt. Sowas wie Hinauf gibt es gar nicht. Heather ist bekloppt!


Annah treibt langsam aus ihrem Zimmer, Linien verschiedener Helligkeit ausweichend. Sie fühlt sich einen Moment völlig orientierungslos, weiß nicht, wie sie Formen unterscheiden kann, wo sie doch nur Linien sieht.
Dann findet sie sich selbst wieder albern. Sie hat Jahrelang geübt, Formen am Lichtabfall ihrer Linie zu erkennen. Je schneller die Linie dunkel wird, umso kleiner und spitzer muss der Winkel sein. Das reicht völlig, um Formen zu unterscheiden. Und ein Winkel und eine Seitenlänge reichen natürlich ebenso, solange die Formen regelmäßig sind.


Annah, das gleichseitige Dreieck, hängt kurz einem Gedanken an etwas, was sich Bär nennt, nach, verwirft ihn dann aber als unsinnige Fantasterei.


Sie verlässt ihr Zimmer und bewegt sich langsam, vorsichtig in das Hauptschlafzimmer. Sie kommt an einer leuchtenden Spitze vorbei, deren äußere Seiten beide in gleichem, recht langsamem Maße dunkler werden. Heather.


Neben dem Hexagon ist eine Linie, die völlig gleichmäßig schattiert ist. Feli hat genug Ecken, um sie nicht mehr per Blick von einem Kreis unterscheiden zu können.


Es ist selten, dass ein einfaches Dreieck so eine perfekte Mutter hat, und Annah wird oft genug daran erinnert, dass Feli nicht ihre tatsächliche Mutter ist. Dass sie nicht einmal Interesse daran hat. Annah weiß, dass Feli sich vor allem durch sie amüsiert, genau wie sie es mit Heather tut.


Sie beide sind völlig unter Felis Stand, und sie wird sich um sie kümmern und sie versorgen, solange sie selbst Spaß daran hat. Nicht weiter. Wie Haustiere.


Immerhin hat Annah Nutzen davongetragen. Heute ist ihr großer Tag. Die ganze Geometrie und Arithmetik, die sie im Rahmen ihrer Sichterkennung von Formen gelernt hat, zahlt sich heute aus. Heather hat es ihr versprochen. Heute wird Heather ihr von „Oben“ erzählen.


Jedes Kind hat Geschichten von „Oben“ gehört. Von geheimnisvollen Legenden einer unvorstellbaren Welt. Eine Welt mit drei Richtungen, drei Dimensionen. Die Welt der Magie.


Heather ist eine Magierin. Hexagons sind meistens Magieaffin. Irgendwas mit den 120° ihrer Winkel scheint sie dafür geeignet zu machen. Annah versteht Magie nicht wirklich.


Heather behauptet sogar, schon häufiger „Oben“ gewesen zu sein. Manchmal meditiert sie, und weiß danach Dinge, die sie nicht wissen sollte. Sie sagt, von „Oben“ könne man die ganze Welt sehen, wenn man nur weit genug „hinauf“ reist. Aber sie sagt, dass es gefährlicher wird, je weiter man „hinauf“ geht.


Heather ist bekloppt! Aber ich will es trotzdem wissen...


Annah stubst eine von Heathers gleichlangen Seiten vorsichtig mit ihrer Seite an. Ecken sind gefährlich, sie können Seiten brechen.


„Hey, wach auf! Du willst mir von „Oben“ erzählen!“


Das Hexagon murrt leise und schaut die Linie vor sich, die Annahs Seite darstellt, an. „Wie spät isses?“
„Spät genug! Erzähl mir woher die Magie kommt und wie es aussieht und wieso man von dort die Welt sehen kann und woher du deine Dinge weißt!“
„Njaahh... später....“


Annah wachte auf.


'kayyy... das... war ein seltsamer Traum. Ich werde bekloppt! Hum.Wie war das mit den Pim... Winkeln und den Seiten?


Annah öffnete langsam die Augen. Sie war kein Dreieck. Sie war ziemlich menschlich und ein bisschen bärig. Sie setzte sich ihre Mütze auf und wurde noch ein bisschen bäriger, dann entzündete sie eine Kerze und machte sich über ihre Pergamente her.


Annah hatte Feder, Tinte und Pergament von Feli gewünscht, obwohl sie weder Schreiben noch Lesen konnte, und auch kein Interesse und eine gesunde Portion Misstrauen an beidem hatte.
Sie hatte allerdings eine recht sichere Zeichenhand. Sie konnte ohne Hilfsutensilien mit recht hoher Genauigkeit einen Kreis, gerade Linien und rechte Winkel malen.


Das änderte natürlich nichts daran, dass sie sich einen Zirkel mit einer Kordel und zwei Stiften und ein Lineal aus einem besonders geraden Holzstück gebastelt hatte.


Die Sache mit den Winkeln und den Seiten hatte ihr eine Idee gegeben. Eine Konstruktion, um genauer zu sein.


Sie kritzelte eine Weile auf dem Pergament herum, bastelte Zeichnungen mit Zirkel und Lineal und grinste am Ende schief, als sie zufrieden ihr Werk betrachtete.



Bei dem ganzen Prozess bemerkte sie jedoch zwei Dinge. Zum Einen brauchte sie sinnvollere Wege, Dinge zu beschreiben und aufzuschreiben. Vor allem Zahlen und Werte. Zum anderen sollte sie vielleicht doch Lesen und Schreiben lernen. Sie musste ja keine Geschichten lesen, die Stimmungs- und Vorstellungsabhängig waren.


Sie traute keinen Geschichten auf Pergament. Feli und Heather hatten ihr zwar erklärt, dass es „Sinn“ machte, aber sie war dennoch nicht überzeugt, dass man eine Geschichte erzählen konnte, wenn der Leser sich ganz andere Dinge unter Worten vorstellen könnte, als der Schreiber.


Für bloße Sachtexte, basierend auf geliebter Logik, sollte Schrift jedoch vermutlich nützlich sein. Sie seufzte leise.


Jetzt fange ich auch schon mit sowas an. Ich werde wirklich bekloppt.


Nachdem all das abgehandelt war, konnte sie sich nun jedoch dem zweiten Thema ihres Traumes zuwenden.


Heather hatte versprochen, ihr Magie zu erklären! Insbesondere den Äther als vierte Dimension, wo es doch völlig unlogisch wäre, wenn die dritte Dimension in der sie leben sich durch irgendetwas besonderes auszeichnete.


Es wäre bekloppt, anzunehmen, dass gerade die Drei etwas einzigartiges wäre. Sie musste sich Gedanken machen, wie sie darüber mit Heather reden sollte. Gut, dass die beiden noch schliefen, so hatte sie Zeit, sich vorzubereiten.