Als sie ihre Augen öffnet, ist die Welt voller Farben. Die Welt ist natürlich immer voller Farben, umso außergewöhnlicher ist die Farbwahl, die sie dieses mal hat. Alles ist schwarz, weiß und grau. Bis auf grün. Annah sieht grüne Spuren. Sie führen überall hin.
Lebewesen haben eine grüne Spur. Magische Objekte. Götterfels ist von Grün erfüllt, trotz seiner sonstigen Farblosigkeit. Sie kann das Portal nach Löwenstein nicht sehen, aber sie setzt sich in seine Richtung in Beweg...
Sie befindet sich direkt vor dem Portal. Über ihm ist ein gewaltiger Strudel an grün, der direkt auf selbiges zusammenläuft. In einiger Entfernung sieht sie einen ähnlichen Strudel, direkt über Rurikton.
Wenn ich jetzt Yena sehen könnte... denkt sie. Sie weiß nicht, warum sie die grünen Linien zuordnen kann. Aber etwas sagt ihr, dass sie Sinn ergeben. ... dann wüsste ich bestimmt, was los ist.
… Sie ist in Löwenstein. Auch Löwenstein hat seine Farbe verloren und an grün gewonnen, doch befindet sich das meiste grün verschwommen unter Wasser. Relikte aus vergangenen Zeiten. Über dem Meer befinden sich zwei gewaltige Strudel, direkt über Fort Marriner und dem anderen Portalhub.
Die Linien von Lebewesen ziehen sich ins Nichts. Sie sind da, sie dehnen sich aus, aber Annah kann weder sehen noch verstehen, in welche Richtung oder in welchem Ausmaß sie das tun. Oder in welcher Zeit. Sie weiß nur, dass sie sich ausdehnen und zu etwas führen, was sie nicht wahrnehmen kann. So wie sie die Linien nur bemerken, aber nicht wirklich wahrnehmen kann.
Sie schläft in Robins und Vahlyenas Lager. Bei ihr sind William, Felicia und Heather. Sie sieht sich selbst. Heather hat, soweit sie es interpretieren kann, eine weitaus stärker ausgedehnte Linie als die anderen Personen im Lager. Ihre eigene kann sie kaum erkennen. Jetzt muss sie sich nur zu Vahlyena dreh...
Annah wachte auf.
Sie war tatsächlich in Löwenstein. Sie war tatsächlich in Robins und Yenas Lager. Aber um sie herum war alles bunt, und es befanden sich keine grünen Linien weit und breit. Geschweige denn grüne Dingsdas, die sich in ganz falsche Dimensionen ausbreiteten, die Annah weder kannte, kennen wollte, noch sehen wollte.
Natürlich hatte sie nicht gut geschlafen. Kein Traumfänger. Kein Mud. Keine Sand. Es war dunkel, und sie hörte das Meer in der Bucht leise rauschen. Hörte von hier oben den Wind durch die kleinen Schluchten und maritimen Strukturen von Löwenstein rauschen, leise sogar die Geräusche von unten hinauftragen. Löwenstein schlief genausowenig wie Götterfels. Vermutlich sogar weniger.
Das war der erste Traum, bei dem sie sich unwohl gefühlt hatte, und trotzdem gerne gewusst hätte, wie er weiterging. Nicht, dass sie viel auf Träume gab. Aber dieses ganze Traumkonstrukt wirkte viel zu sinnvoll und durchdacht, als dass ihr Unterbewusstsein einfach nur mit ihr spielen wollte. Glaubte sie.
Hoffte sie.
Sonst müsste sie einmal ein ernstes Wort mit ihrem Unterbewusstsein sprechen.
Yena ist verflucht und ich hab' keine Ahnung, wie ich etwas ändern kann
Sie schloss ihre Augen wieder. Schlafen würde so bald wohl nicht funktionieren, aber es war dunkel, sie sah fast nichts, also konnte sie auch die Augen geschlossen behalten und versuchen, sich zu konzentrieren.
Wenn Yena aufwacht, kümmert Heather sich um sie und versucht, rauszufinden, ob sie verflucht oder besessen ist, von was sie verflucht ist, und ob sie es durch die Aetherdellen und Linien wie in meinem Traum finden kann. Wenn sie es dadurch finden kann, und Juno auch verflucht ist, kann sie dadurch auch Juno finden.
Wenn Juno nicht verflucht ist, braucht sie wahrscheinlich keine Hilfe, höchstens Trost. Bären können nicht trösten. Vor allem nicht Salat.
Wenn Yena nicht verflucht ist, ist sie krank. Oder sie ist traurig. Bären wissen nicht, wie man Leute aufmuntert. Also kann ich nicht helfen. Und Bären wissen nicht, wie man Kranke heilt. Also kann ich nicht helfen.
Aber ich weiß, wer Kranke heilen kann. Die Frau Doktor vom Armenhaus.
Wenn die Kette Schuld ist: Yena hat die Kette am Strand gefunden. Sie wurde also vermutlich an- oder aufgeschwämmt. Sie kommt also wahrscheinlich aus dem alten Löwendings oder aus Orr.
Beides sind alte Plätze. Älter als Heather und älter als Schnodder und älter als Moe und älter als alle, die ich kenne. Wenn es ein Fluch ist, kann der Fluch gut älter sein, als jeder, den ich kenne. Und wenn der Fluch älter als sie ist, kann es gut sein, dass sie den Fluch nicht kennen und nicht wissen, was sie dagegen machen müssen.
Wenn sie nicht wissen, was sie gegen den Fluch machen müssen, müssen wir das rausfinden. Dafür brauchen wir altes Wissen. Altes Wissen gibt es bei alten Leuten, aber es gibt keine so alten Leute. Feli sagt, Bücher haben so altes Wissen. Aber ich habe keine Bücher. Aber es gibt ganz viele Bücher in der Durmandhalle.
Annah öffnete die Augen und sprach, mehr oder weniger ins Nichts und zu Niemand bestimmten „Jemand muss in der Durmandhalle Bücher über Flüche in Orr und alt Löwendings suchen!“
Geister und Tote haben auch so altes Wissen, aber man muss die richtigen Geister und die richtigen Toten finden. Und sie müssen Fragbar sein. Ich habe Heather noch nie einen fragbaren Toten beschwören sehen. Aber vielleicht geht das auch.
Ansonsten muss jemand das Amulett untersuchen. Ganz vorsichtig und systematisch die Mechanik dadrin verstehen. Wie in meinem Würfel, ohne es in die falsche Richtung zu drehen. Ohne es überhaupt zu drehen. Nur durch angucken. Nur mit Magie. Bären können keine Magie, auch wenn ich Mechanik verstehe. Und Heather ist nicht systematisch, glaube ich.
Sie seufzte leise.
Wenn irgendwas sie besessen hat, anstat sie zu verfluchen, dann kann vielleicht Heather oder Schnodder oder Moe, oder jemand anderes den wir suchen müssen, Kontakt mit dem Ding aufnehmen und reden oder handeln oder kämpfen. Ich kann auch nicht mit bösen Geistern Kämpfen. Bären können zwar gut kämpfen, aber Holzschwerter helfen nicht gegen Geister. Vielleicht will er irgendwas, der Geist. In seinem Geschäft. Und vielleicht kann ich da helfen. Aber sonst kann ich nix machen. Vielleicht will er Schutzäpfel.
Sie erinnerte sich an die Sorgen, die Robin sich am Abend zuvor machte. Das war bekloppt. Die Schuldzuweisung und Schuldgefühle, die er äußerte. Die Sorgen, die er sich machte, ohne jetzt etwas ändern zu können. Irrational. Unsinnig. Bekloppt. Aber sie wusste inzwischen, wie es sich anfühlte. Seit Heather wegen ihrem Dingsda verschwunden war.
Noch bekloppter war es, dass er ihr auch Leid tat, obwohl er gar nichts echtes hatte, außer Beklopptheit. Sie mochte nicht, dass sie selbst bekloppt wurde. Sie mochte es gar nicht. Bären waren nicht bekloppt. Bären waren nur bärig. Bären waren hungrig und gefährlich. Aber Bären hatten keine Empathie, niemand tat Bären Leid und Bären machten sich keine Sorgen.
Bären waren nicht bekloppt.
Jemand sollte Rob wenn er aufwacht einen Apfeltee machen... der beruhigt.