Gähnend und sich streckend trat Jendu an Deck, zermartert von einer langen und äußerst schaukeligen Nacht in der Hängematte. Es war der Morgen des dritten Tages, den sie nun segelten. Die relative Küstennähe und das zusehends tropischere Wetter ließen das Schiff deutlich weniger schnell voran kommen als es auf offener See möglich gewesen wäre, aber das Ziel erlaubte keinen anderen Kurs.
Entsprechend wenig erbaulich hatte die Fahrt sich bislang gestaltet, doch der Elonier war Schlimmeres gewohnt aus der Zeit, da er noch unter schwarzen Segeln gelebt hatte.
Er musste feststellen, dass Lyssa dennoch seinen Schlaf gesegnet hatte. Fast alle Passagiere waren früher auf den Beinen als er selbst. Die Matrosen und Schiffsleute ohnehin – permanent hatte die aus gemischten Völkern zusammengesetzte Crew damit zu tun, die 'Kreischender Albatros' auf Kurs zu halten. Männer und Frauen hingen in der Takelage, vertäuten die Segel neu und schrubbten die Planken.
Kapitän Shivers stand persönlich am Steuerrad und schien guter Dinge zu sein, obwohl sie sich darüber im Klaren sein musste, dass ihre treue Karacke sich schon im südlichen Teil der Schwermütigen Tiefen befand. Die Felsformationen, die bald kommen würden, waren ein berüchtigter Schiffsfriedhof, der schon so manche unbedachte Besatzung, Piraten und ehrbare Seefahrer gleichermaßen, ihrem Ende zugeführt hatte.
Aber Jendu wusste dass die alte Shivers diese Route nicht zum ersten Mal nahm, und er hatte genügend Vertrauen in die befahrene alte 'Seehexe', wie ihre Crew sie nannte.
Die beiden Asura waren unter Deck geblieben, wohl mit ihren Forschungen beschäftigt. Jendu hatte mehrmals überlegt, sie anzusprechen, es dann aber doch gelassen. Keiner von ihnen war Mesmer, das hatte er im Gespür, und ganz davon abgesehen wollte er ohnehin kein zweites Langohr zum Mentoren.
Die dreiköpfige Söldnergruppe – er vermutete, es waren Söldner, sie sahen danach aus – welche der Balthasarpriester mitgebracht hatte, steckten auf dem Achterkastell die Köpfe zusammen, während der Priester selbst neben Frau Kapitän stand, mittlerweile ohne diese umständliche Rüstung, die er am ersten Tag noch an Deck getragen hatte. Man unterhielt sich – Jendu war etwas überrascht gewesen, zu erfahren, dass die alte Shivers eine hoch gottesfürchtige Frau war und dem Priester samt seinem scheinbaren Leibwächter eine abgesonderte Kajüte überlassen hatte.
Der Elonier presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab, bevor der Fleischberg den Blick wieder bemerken konnte. Er hatte an Bord einen großen Bogen um diesen Priester gemacht, von dem er genau wusste, dass er es war. Kay hatte ihm genug erzählt.. Er fragte sich fieberhaft, was mit Kumani war – warum dieser Kriegstreiber sie nicht mit dabei hatte. Vielleicht war seine Cousine ja schon von dem Kerl erschlagen worden..
Im Angesicht der bereits gut beschäftigten Crew fällte er den Beschluss, sich nicht die Finger schmutzig zu machen. So trottete er in Richtung des Bugkastells herüber, indessen an seinem Kragen herumzupfend, als er feststellte, dass schon wieder eine Feder locker saß. Besserer Leim musste für die vermaledeiten Dinger her, sonst würde ihm der nächste Sturm noch welche davon blasen.
Naserümpfend pflanzte er sein Hinterteil auf eine stabil positionierte Kiste und lehnte sich mit hinterm Nacken verschränkten Fingern gegen die Reling. Die wärmende Sonne ließ ihn blinzeln, als sein Blick himmelwärts driftete. Schönes Wetter, schon zu dieser Stunde.. er konnte es nicht genießen.
Das Schiff wippte sacht unter ihm, immerzu in milder, nahezu einlullender Bewegung. Er schloss die Augen, konzentrierte sich ganz auf das Gefühl.. und driftete ab. Immer wieder hatte er in den letzten Tagen an Löwenstein zurückdenken müssen, an das was er zurückgelassen hatte, sitzen lassen hatte – mal wieder.
Obwohl er Kay die Wohnung und einen beträchtlichen Teil des Geldes überlassen hatte, zog sich ihm bereits alles zusammen bei der Vorstellung, was passieren würde, wenn er genauso plötzlich wieder auf der Türschwelle stand wie er sich aus dem Staub gemacht hatte.
Es war besser so gewesen. Besser für alle, und einfacher.. vor allem einfacher. Als er Hakk auf dem Markt entdeckt hatte, war er durchgedreht. Tief in seinem Inneren war ihm klar gewesen, dass es irgendwann passieren würde, und vielleicht war das auch der Grund gewesen, aus dem er sich nie für etwas Neues hatte aufraffen können.
Alles was er wusste, war dass er sich in Sicherheit bringen musste, und dadurch natürlich auch Kay, und dass er sich etwas ausdenken musste, und.. "Ach, Kormirs heilige Strapse nochmal.", zischte er und raffte sich auf, kramte in seiner Weste nach dem Rauschkraut. Seine Gedanken überschlugen sich. Er brauchte dringend Entspannung.
Anderthalb Stunden später schlussendlich segelten sie zwischen dunklen, zerklüfteten Felsen hindurch. Harte Kanten ragten allerorts hervor, und da der Himmel nach wie vor klar, offen und sonnig war, konnte man entfernt diverse Wrackteile am Gestein verankert sehen. Zerborstene, pockenüberwucherte Schiffsrümpfe, geisterhaft aufragende Maste zwischen den steinernen Zacken.
Die Segel waren längst eingeholt und die kräftigen Seebären saßen an den Rudern. So kamen sie nur langsam voran – und das war gut so. Ein paar Matrosen mit Staken in den Händen standen an Deck, um notfalls nachzuhelfen, sollte etwas im Wasser treiben und die Fahrtrichtung blockieren; Auch er selbst hatte sich eine gegriffen.
Kapitän Shivers stand heute nicht umsonst durchgängig persönlich am Steuer. Die Passage voraus war eng und gefährlich für unerfahrene Seeleute – Jendu wusste nur zu gut, dass nicht jede Crew solche Stellen bewältigen konnte. Aber Shivers und ihre Leute waren eingespielt.
Es war die bislang engste Stelle zwischen zwei Felswänden, an der es schließlich geschah. Im ersten Moment hielt Jendu das Rauschen und Klackern für den Fehltritt eines Matrosen, der etwas fallen ließ. Doch die entsetzten Aufrufe veranlassten ihn dazu, sich blinzelnd umzuwenden.
Zu diesem Zeitpunkt rauschten schon zwei weitere Enterhaken von den Felshängen herab und keilten sich in der Reling fest. Knarrend spannten sich die Seile, und weitere folgten binnen Sekunden – zusammen mit dem Sperrfeuer.
Pistolen donnerten wüst, Menschen schrien in Pein, Klingen wurden aus Scheiden gerissen. Keine drei Meter entfernt wurde ein rothaariger Norn geräuschvoll von zwei Harpunengeschossen und mehreren Kugeln durchbohrt.
Es ging alles so schnell, dass Jendu erst in diesem Moment fluchend dazu kam, die Stake loszulassen und beiseite zu hechten. Während der tote Riesenleib auf die Planken krachte, platschte das lange Holz dahinter geräuschvoll ins Meerwasser.
Der Elonier blieb flach auf dem Untergrund, richtete sich gerade weit genug auf, um in die nächste Deckung zu kriechen – wenn es denn eine gegeben hätte. Die Angreifer feuerten von beiden Seiten der Passage, überrumpelten die Crew völlig. Ein Hinterhalt. Mitten im Nirgendwo.
Sein Herz schlug gefühlt bis zum Hals, als er panisch nach dem Szepter tastete. Fünf Mann zählte er bei einem hastigen Blick über die Situation bereits tot auf den Planken, ein sechster kippte gerade mit schrillem Schmerzensschrei über Bord. Kapitän Shivers brüllte Befehle, die Jendu über den Lärm der Feuerwaffen und das Rasen des eigenen Adrenalins nicht genau verstand.
Die braun-grüne Sylvari half ihrem offensichtlich angeschossenen Söldnerkollegen die Treppen am Heck herab gen Zwischendeck, während der Tengu aggressive Flüche in seiner fremdartigen Muttersprache kreischte und das feindliche Feuer mit seinem großen, geschwungenen Kompositbogen erwiderte.
Jendu sah, wie der Fleischberg-Priester mit wehendem Ledermantel die Tür zu den gehobenen Kajüten aufriss und nach drinnen verschwand, ohne auch nur über die Schulter zu blicken. Es stimmte ihn fassungslos, dass dieser Diener Balthasars, der nur aus Muskeln zu bestehen schien, sich tatsächlich vor dem Angriff zurückzog.
Und dann, binnen Sekunden, wurde das Feuer von den Hängen scheinbar grundlos vollständig eingestellt. Ein Pfeil des Tengu zischte noch in die Höhe. Ob er etwas traf, konnte Jendu nicht ausmachen.
Nachdem die Pistolen verstummt waren, erhob sich eine Frauenstimme über die Szenerie, warm und feminin, aber in unerbittlicher Intonierung: "Widerstand ist zwecklos! Legt alle Waffen nieder, und Niemand wird mehr verletzt. Wir entern das Schiff."
Diese Stimme hätte er auch in tausend Jahren noch wiedererkannt. Janita.., schoss es ihm durch den Kopf, und er umklammerte sein Szepter krampfartig.
"Ihr habt einen Mann namens Jendu Kargah Hasshadh an Bord.", rief sie herab, während die Enterleinen mit den ersten herabgleitenden Körpern knarzten. "Überstellt ihn uns ohne Widerstand, und wir lassen den Rest von Euch unbeschadet weitersegeln."
Jendu wusste, dass er geliefert war.
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