Es war dieser eine Augenblick. Der Augenblick, nach dem er sich eine gefühlte Ewigkeit verzehrt hatte. Drei lange Jahre. Die längsten Jahre seines Lebens, die der Nachtmahr ihm keine Ruhe gelassen, ihn gejagt hatte.. gejagt durch Nächte voller Schweiß, Panik und Zorn, Nächste ohne Schlaf und voller Visionen von Versagen. Ihn, den Priester. Den Krieger. Den Eroberer. Den Besiegten, der diesen Ort nie wirklich verlassen hatte.
Stufe um Stufe trugen ihn die Panzerstiefel hinauf. Ein Einzelner, nicht mehr als ein winziger Fleck auf jener Jahrhunderte alten Stiege, geschaffen für ganze Armeen in ruhmreicher Pracht. Der Boden, auf dem er trat, war Menschheitsgeschichte. Er fühlte sich leicht, als seien all seine Bürden, alle Einschränkungen seines weltlichen Daseins vergessen. Und doch hätten seine Schritte nicht schwerer wiegen können, wie von Zement belastet.
Wieder hier zu sein, diese Stufen zu erklimmen.. er konnte es immer noch kaum fassen. Es fühlte sich unfassbar richtig an, und doch haarsträubend falsch. Ein Moment, in dem dieser Tempel, dieses überwältigende Monument seines Glaubens, frei war von sämtlicher untoter Plage. Ein Sieg für seinen Gott. Ein Sieg für seine Vision. Nicht aber für ihn, den Mann.
Denn nicht er war es gewesen, der diesen Tempel befreit hatte. Er konnte nicht einmal sicherstellen, dass die Truppen ihn halten würden. Alles, was er tun konnte, das wurde ihm langsam, sehr langsam klar.. war hier zu sein. Diesen Moment zu atmen und zu leben. Der Priester vermochte nicht zu sagen, ob das ein Eingeständnis von Schwäche war, oder ein Zugeständnis an den Rest Menschlichkeit, den er sich vorbehalten hatte.
Er war einer der Ersten gewesen. Einer der Ersten, die diese Stufen mit der Waffe zur Hand und dem Kampfschrei auf den Lippen erklommen hatten, um die erdrückende Übermacht der Auferstandenen anzufechten. Umgeben von tapferen Recken, war er doch verloren gewesen, allein in ihrer Mitte. Alle gemeinsam waren sie gekommen, um Orr von Zhaitan zu befreien und die Gefahr für die freien Völker zu brechen. Er war gekommen, um den Tempel wieder in die Hände seines Gottes zu führen. Und dann – Dunkelheit. Die Wahl, weiter zu kämpfen, war ihm aus den Händen gerissen worden, als er fiel.
Nun war er wieder allein. Ein einzelner Priester des Balthasar. Nur ein Echo vergangener Zeit, wie der Tempel selbst. Seine Gedanken schweiften einen Moment lang zu Mavey. Sie hatte ihm geschworen, er würde diesen Ort befreit sehen, und sie hatte Recht behalten. Jetzt konnte sie nicht mit ihm hier sein. Wie auch – wer hätte ahnen können, dass diese Reise ihn hierher führen würde. Es war keine Zeit, die Mission abzustoppen, wenn der Vormarsch einmal begonnen hatte. Und so stieg er auch jetzt weiter hinauf, denn er spürte die Mächte seines Gottes in greifbarer Nähe.
Langsam glitt sein Blick über die Mahnmäler, die er passierte. Abbilder Balthasars, gleich Hütern an den Flanken. Gewaltige Zierfackeln, ihre stählernen Schalen so groß wie kleine Schiffe, überzogen mit Rost und toten Seepocken von den Jahrhunderten unter den Wellen. Doch das Feuer, das noch immer in ihnen brannte, hatte ewigen Bestand.
Und in der Höhe, aufragend über allem und jedem, thronte sie. Thronte er. Kolossal, majestätisch, wie ein Aufseher, der niemals schlief. Die größte Statue Balthasars unter der Sonne. Über hundert Meter ragte sie in den Himmel hinauf – Die Kathedrale. Die Flammenwälle, welche aus den schroffen Felshängen rundherum aufbarsten, trugen die Kraft von Äonen in sich, und das Licht in der gigantischen, aufwärts gereckten Hand der Statue schien niemals zu erlöschen.
Der Priester wandelte unter Balthasars Auge, und jeder weitere Schritt war ein Kampf – ein Kampf zwischen bebender Verehrung und brennender Ambition. Und auch ein Kampf mit den Bildern.
Mit jeder Stufe, die er nahm, verfolgten sie ihn. Drei Jahre passierten Revue, in denen er hoch hinaus gekommen und tief gefallen war. Drei Jahre, in denen er Stärke und Kampfkraft genauso gesammelt hatte wie Schmach und Wut ob der unwürdigen Fehler, die ihm unterlaufen waren. Er hatte das Feuer voran getragen – Gemeinschaften gefestigt und Schneisen in andere gebrannt. Menschen, die den Namen Sentenzar Dronon in Ehrfurcht aussprachen, und Menschen, die ihn voller Abscheu in den Mund nahmen.
Zahllose Gesichter blitzten auf vor dem inneren Auge, Gesichter, denen er schon lange zuvor gegenüber gestanden hatte, hier an diesem Ort, in seinen Träumen, in seinem nie endenden Versuch.
Irgendwann nahmen die Stufen ein Ende. Er stand auf der Schwelle, der altvordere Altar in nahezu greifbarer Nähe. Er spürte die Blicke der Besatzer auf sich lasten, registrierte gar grüßende Rufe und marschierende Stiefel. All das schien ihm so unwirklich. Er hörte, und vernahm doch Nichts. Sein Blick war gefangen von den überwältigenden Dimensionen der Kathedrale des Glorreichen Sieges.
Da war befremdliche Feuchtigkeit auf seinen Wangen. Auch sein Blick hatte sich zu trüben begonnen. Mit einem dumpfen Laut glitt der Streithammer zu Boden, ohne dass er sich entsinnen konnte, ihn hingeworfen zu haben. Seine Beine ließen ihn im Stich, und er sank krachend auf die Knie herab, beide Panzerpranken der gewaltigen Statue entgegen gestreckt. Nie mehr wollte er etwas anderes sehen.
Sentenzar legte den Kopf in den Nacken und ließ los. Er weinte und tobte, lachte und brüllte, entfesselte Alles, denn er konnte nicht mehr. Zitternd, doch voller Hitze, schrie er dem Himmel entgegen.
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