Es war eine weise Entscheidung gewesen, ungerüstet in den Morast aufzubrechen. Nicht nur der sumpfige Boden barg seine Tücken. Dronon fühlte sich erinnert an den Marsch in die Silberwüste – der Maguuma-Dschungel hatte ihm auf ähnliche Weise das Gefühl vermittelt, vor Schweiß und feuchter Luft zu ersticken, wo die Hitze allein ihn nicht zu schrecken vermochte.
Sie hatten sich zu früher Stunde auf den Weg gemacht, um keine Zeit zu vergeuden. Driftmark und Clyde waren in Fort Gleichschritt bei den Zelten, dem Gepäck und dem Ochsen zurückgeblieben. Es war nicht zu verkennen gewesen, dass Kapitän Shivers den Passagieren, speziell Hasshadh, in Anbetracht des Vorfalles nicht nachtrauerte.
Auch wenn die 'Kreischender Albatros' noch eine Weile lang für Reparaturen vor Anker bleiben musste, hatten alle Passagiere, mit Ausnahme der beiden Asura, die direkt auf dem Weg zu ihrem Labor verschwanden, das Nächtigen bei den Wachsamen im verfallenen Fort vorgezogen.
Der Priester war überrascht gewesen, den Kriegsmeister der aktuellen Besatzung wiederzuerkennen, auch wenn er Orlon Glenwick noch als Offizier der Seraphen in Erinnerung hatte. Wie es schien, war der Mann in verwaltender Tätigkeit von der Krone ausgeliehen worden.
Der Standort Fort Gleichschritt, früher überflutet vor Angriffswellen der Auferstanden, war seit Zhaitans Fall bedeutend ruhiger geworden. Die Kontrolle der Wachsamen hatte sich gefestigt.
"Wir müssten in der richtigen Gegend sein. Diese Ruinen sind wie die in der Erzählung.", erklang die exotisch akzentuierte Stimme von Swift Krummschnabel weiter voraus. Der hochgewachsene Tengu führte den Weg, seinen Kompositbogen auf den Rücken geschlungen, um die Klauen für die mitgebrachte Landkarte frei zu haben.
"Dann hoffen wir doch darauf, dass Euer Großvater zuverlässiger war als Euresgleichen es heutzutage ist." Schnaufend fuhr Dronon sich mit dem Handrücken über die Stirn, um Schweißrinnsale fortzuwischen.
Er sah den Tengu nicht an bei jenen Worten, begutachtete stattdessen die Ruinen rundherum. Schwer zu sagen, ob sie alt-krytanischen Ursprunges waren oder nicht – die Grundarchitektur mutete menschlich an, doch die Jahre hatten Etliches abgetragen. Jene in Sumpfland aufgegangenen Steingerippe erzählten keine Geschichte mehr über ihre Erbauer.
Swift Krummschnabel stoppte abrupt, um sich mit sacht raschelndem Gefieder zu dem Menschen umzublicken. Die ungewöhnlich schwarzen Habichtaugen des Tengu verengten sich in unheilschwangerer Stimmung. "Es wäre weise, Priester der Menschen, Eure Vorurteile fahren zu lassen. Meine Brüder und Schwestern im großen Horst haben nur ihr Land zu schützen versucht."
"Land, das sie sich erschlichen haben, um sich dort furchtsam einzumauern.", entgegnete Dronon, dessen Fokus auf Krummschnabel einrastete, als er sich gewahr wurde, dass ihr Grimm auf Augenhöhe war. "Krytanisches Land. Es wird die Zeit kommen, da wir es uns zurückholen wollen."
"Versucht es. Wir werden einen Sturm aus Pfeilen auf Euch herabregnen lassen."
"So wie letztes Jahr in Löwenstein?"
Die geschnatterte Beleidigung, welche sein aviarer Begleiter daraufhin in seiner Muttersprache zurückgab, konnte Dronon nicht verstehen. Was er nur zu gut verstand, war die Essenz dieses Vogelmenschen. Die Tengu waren Diebe, genau wie die Gründer von Neu-Löwenstein. Nur verstanden sie sich im Gegensatz zu diesen darauf, das Land zu verteidigen, welches sie ohne respektable Eroberung gewonnen hatten.
"Hee!", fuhr die Stimme der Sylvari Celanry aus der Distanz dazwischen. "Während ihr beide streitet, habe ich die Säule gefunden."
Die Blicke der beiden Männer wanderten nach rechts. Kurz darauf setzten sie sich langsam in Bewegung, um den Lauten nachzugehen.
Trotz der fehlenden Panzerung tat der Kriegerpriester sich angemessen schwer, auf dem morastigen, von Lianen verhangenen Terrain mit Krummschnabel mitzuhalten, der trotz der natürlichen Größe seines Volkes kaum einsank. Vögel., kam es ihm in den Sinn. Vielleicht sind die Knochen der Tengu so hohl wie ihre Ehre.
Von allen drei Glücksrittern aber war Swift noch immer der respektabelste Krieger, und der vermutlich essenziellste unter ihnen. Immerhin stammte der Hinweis auf diesen Ort von ihm – auch wenn der Priester sich noch immer seine Zweifel an der banalen Geschichte vorbehielt, dass Krummschnabels Großvater zur Zeit des Exodus aus Cantha einen Zaishen gekannt hatte, der das gesuchte Relikt angeblich in dieser Gegend verborgen hatte.
Der Stiel seines Hammers sank bei den semi-krückenden Stapfern schmatzend in den Sumpfboden, während Dronon das breite Falchion-Schwert in seiner Rechten mit kräftigen Hieben als Machete gebrauchte. Pfeifend zerteilte die Klinge knorrige Lianenstränge, unter denen sein Vordermann im hellblauen Federkleid sich einfach hindurch duckte. Dann tat sich vor ihnen auf, wovon die Sylvari geplärrt hatte.
"Tatsächlich, wie in der Erzählung.", stellte Swift fest, während er an dem überwucherten Stück Bauwerk herauf sah. "Ein ungleiches V auf schiefem Pfeiler."
"Bald mehr als nur schief, wenn Eure törichte Freundin sich nicht vorsieht.", grollte der Diener Balthasars mit aufeinander gepressten Zähnen, während er Celanry ärgerlich dabei observierte, wie sie am Bewuchs der Säule heraufkletterte. Die Intuition dieser Sylvari mochte ihr Anstellungsgrund bei Oxuatl gewesen sein, aber solche Unbedarftheit würde zweifellos ihr Untergang werden. Er legte mehr Kraft in seine Worte, als er hinauf rief: "Obacht, beim Barte Balthasars! Wenn das Ganze in den Sumpf stürzt, ist es Eure Schuld!"
"Ich habe Celanry schon wesentlich heiklere Sachen erklimmen sehen." Es war der Tengu, der antwortete, wo seine Kollegin zu sehr von ihrer Kraxelei vereinnahmt war. Der buckelschnablige Zeitgenosse faltete seine Karte zusammen.
Es war nicht so, als wäre Dronon viel mehr übrig geblieben, als darauf zu bauen, dass Swift Recht behielt. Er konnte der Sylvari schwerlich hinterher steigen auf ihrer Abenteuerheischerei. Und so ließ er das Falchion in die lederne Scheide gleiten, um widerwillig zu warten. Seine Anspannung wuchs, als Celanry unter raschelnden Lianen aus dem Sichtfeld verschwand.
Was wenn sie den Amboss beschädigte? Was wenn sie ihn nicht herausrückte und damit floh? Der Priester knirschte mit den Zähnen. Es war eine Menzies-geschissene Schande, diese Aufgabe keinem gottesfürchtigen Menschen anzuvertrauen.
Die akrobatische Schatzjägerin blieb minutenlang auf dem verfallenen Pfeiler entschwunden, verborgen hinter den V-förmigen Überresten des Gemäuers, das einst davon gestützt worden war. Als sie mehrere Minuten lang kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, fällte der Kriegshetzer den Beschluss, auf die Säule zuzustapfen – nur um innezuhalten, als die Sylvari sich in lichten Höhen aufrichtete, um zu ihnen herab zu winken. Kurz darauf befand sie sich auch schon wieder auf dem Weg herab.
Er ignorierte Swifts verdeutlichenden Seitenblick und runzelte kritisch die Stirn. Celanry hatte eindeutig keinen Amboss bei sich. Stattdessen schwenkte sie einen bekritzelten Zettel, während sie durch den Sumpf zu ihnen zurückwatete, als stünde das Geheimnis der Nebel selbst darauf geschrieben. "Eine Inschrift im Stein! Canthanische Satzzeichen, glaub' ich. Ich hab' alles abgezeichnet."
"Gib.", meinte Swift ohne großes Aufhebens, zupfte seiner findigen Kollegin das Papier aus den Fingern.
"Könnt Ihr sie lesen?", fragte der Priester Balthasars, während sein Blick wieder dem gefiederten Wesen galt. Natürlich kann er es lesen., war sein Gedanke. Der Tengu musste es lesen können – sie waren nicht bis hierhin gekommen, nur um auf der Suche nach einem canthanischen Gelehrten wieder zurück zu segeln. In Driftmark zumindest war dahingehend wenig Hoffnung zu setzen.
"Selbstverständlich kann ich das. Meine Vorfahren waren vom Stamm der Angchu.", erwiderte Krummschnabel fast schon pikiert. Dennoch kniffen die greifvogelartigen Augen sich konzentriert zusammen. "Es scheint eine Art Gedicht.. nein, eher ein Rätsel zu sein. Ich lese vor:
Von den Brüdern getrennt, Vier Bräuten zu Ehren, Unser geheiligtes Handwerk,
Die Heimat den Fluten,
Im Fremdland verloren,
Die Prüfung steht bevor.
Den Elementen verschworen,
Auf ins Land der Wunder,
Fechten den toten Kampf.
ins ..Anthenäum.. zu betten.. "
Sichtlich brachte das fremdartige Nomen den Tengu ins Stocken. Der gebogene Schnabel klackerte einen Moment lang, und Swifts Blick hob sich kurzzeitig in die Runde, bevor er sich wieder dem Verlesen der kryptischen Zeilen widmete.
" ..Den Segen der ewigen Glut, Wehe den Hochmütigen,
Den Lohnbringer der Besten.
Es beginne der Wettstreit,
Feiert den Kriegsherrn,
Der uns verlassen hat. "
Zu Beginn der Rezitation war es noch staunende Erkenntnis gewesen, die der Priester empfand. Rasch aber war Nichts mehr übrig als Wut über den Autor jener Zeilen. "Er ist wahnsinnig geworden."
"Soll das jetzt etwa heißen, dass wir Nichts haben?" Swift ließ den Zettel sinken.
"Nein. Das soll heißen, dass wir nach Orr müssen."